Polyamorie: Oder die Kunst des Zuhörens, des Redens und Verstehens

Vergangenheit

Ich bin 44 Jahre alt, lebte 19 Jahre in einer völlig monogamen Beziehung (und war davon 16 Jahre verheiratet). Über das Thema Polyamorie als Beziehungsmodel habe ich in diesen Jahren niemals nachgedacht. Der Gedanke, einen weiteren Menschen in meinem Leben zu haben, erschien mir abwegig. Ich war, atmete, lebte und liebte monogam.

Während meiner früheren Beziehung(en) auch nur jemand anderen anzuschauen, war für mich tabu und führte oft zu einem schlechten Gewissen, meinem Partner gegenüber.

Auf der anderen Seite bin ich jemand, der sich schnell in einen anderen Menschen verknallen kann, ich war schon immer ein sehr offener und neugieriger Mensch. Ich ging schon immer direkt auf andere Menschen zu, redete mit ihnen, hörte zu, fragte meine Fragen und habe auch zu schwärmen anfangen können. Sei es, weil der-/diejenige ein Hobby hatte, das mich in diesem Moment faszinierte. Sei es, weil der-/diejenige etwas einfach nur verdammt gut machen konnte (also immerhin besser als ich). Sei es, weil der-/diejenige über eine Sache nur sehr gut Bescheid wusste. — Ich liebte und liebe es.

Schlimm für mich wurde es immer dann, wenn ich auf einen Menschen getroffen bin, mit dem ich dann auch noch besonders viel Lachen konnte, wenn ich bemerkte, dass wir nicht nur intellektuell auf einer Ebene waren, sondern auch noch vom Humor. — Dann war ich verknallt. Denn nichts wirkt besser als Aphrodisiakum als ein anregendes Gespräch mit viel Lachen.

Spätestens dann habe ich in meiner Vergangenheit immer die Notbremse gezogen: Das kann nicht sein! Das darf nicht sein! Was ist falsch mit mir?

Und dann kam eine ziemlich schwierige Zeit. Meine Ehe funktionierte (aus heutiger Sicht) bereits seit vielen Jahren nicht mehr wirklich, und ich war einfach unzufrieden mit mir und vor allem mit meinem Sexleben. Denn da war (aus therapeutischer Sicht) keines mehr. Seit 10 Jahren nicht mehr. Klar haben wir oft über dieses Thema gesprochen, aber die Antwort meiner Frau war immer gleich: „Wie, du willst schon wieder? Wir hatten doch gerade erst?“ – „Das war vor 3 Monaten, wenn ich mich recht erinnere“ – „Ja, eben!“

Ich hatte ihr damals immer folgendes erklärt: Eine Beziehung ist wie ein kleines ‚i‘. Der lange Strich ist die Basis einer Beziehung, das gegenseitige Vertrauen, das Meistern des Alltags mit den Kindern, das füreinander da sein, das Gefühl zu haben, angekommen zu sein, … kurz Liebe. Und der Punkt vom kleinen ‚i‘ steht für Sex, Begehren und Leidenschaft. Ohne das eine oder das andere ist eine Beziehung in meinen Augen nicht komplett. Es zeigt aber auch die Gewichtung der beiden Komponenten. Die Basis ist um Welten wichtiger, als der Sex. Ich könnte mir keine Beziehung vorstellen, die ausschließlich aus Sex besteht. Aber genauso wenig kann ich mir heute noch eine Beziehung vorstellen, die Ausschließlich aus der Basis besteht.

Nun ist es gerade in langen Beziehungen so, dass nahezu natürlich das Begehren und die Leidenschaft irgendwann einmal weniger wird, vielleicht sogar aufhört, zu existieren (was allerdings für mich heute gesehen, ein Grund für eine Trennung ist). Und da stellt sich dann die Frage: Was tun?

Es gibt zwei Möglichkeiten. Die eine ist, das einfach hinzunehmen. Vielleicht ist es einfach nicht mehr wichtig, den anderen mit Gier in den Augen auszuziehen, über den Tisch zu legen und so lange zu vögeln, bis einer der beiden oder beide zusammen krächzend aufgeben… Solange beide Partner derselben Meinung sind, ist das durchaus ein gangbarer Weg.

Ist aber nur einer der beiden Partner mit dieser Situation zufrieden und der andere möchte sich und seine Sexualität ausleben, dann hat man wiederum zwei Möglichkeiten: Entweder, man sucht sich eine heimliche Affäre, oder man bespricht das mit dem Partner offen und überlegt sich, was man tun kann, so dass beide Partner glücklich sein können. Das kann eine Trennung im Einvernehmen sein, das kann aber auch eine gelegentliche Affäre sein. Wichtig ist hier aber, dass der Partner offen über seine Ängste sprechen kann und dass man diese auch ernst nimmt und nicht einfach abbügelt. — Aber auch, dass der andere offen über seine Lust reden kann und dass das nicht einfach abgebügelt wird.

In meiner eigenen Ehe war es so, dass meine Frau damals mir immer wieder unterschiedliche Antworten gegeben hatte. Mal war es für sie ok, dann wurde es ihr zu intensiv und sie fing an, mich zu hassen und sehr eifersüchtig zu werden. Die ganze Situation wuchs ihr über den Kopf. Und mich zermürbte dieses ewige Hin und Her.

Ich hatte damals eine Frau kennengelernt. Ich nenne sie jetzt einfach mal Chris. Chris war polygam / polyamor. Ich habe viele sehr intensive Diskussionen mit ihr über das Thema gehabt. Sie hat mir zugehört, hat mich in manchen Dingen bestärkt, hat sogar meine Ehe in vielen Dingen wieder ins richtige Licht gerückt. Sie hat mir in manchen Dingen aber auch gehörig den Kopf gewaschen. Was mich lange Zeit am meisten beschäftigt hatte, war das folgende Gespräch:

Chris: „Wieviele Freunde hast du?“

Ich: „Och, einige“

Chris: „Warum hast du mehr als einen Freund?“

Ich: „Nun, der Grund ist, dass ich mit den einen eher dies machen kann. Und mit den anderen wiederum das. – Ich brauche einfach unterschiedliche Menschen um mich herum, die mir helfen, meinen Horizont zu erweitern“

Chris: „Siehst du, genau so ist es in einer polygamen Beziehung auch. Ich habe meinen festen Freund, den ich total liebe, für den ich ins Feuer gehen würde. Und er für mich. Aber der Sex ist mit ihm eher einfach. Er steht nicht auf die Dinge, die ich gern mag. Ich kann bestimmt eine Zeit darauf verzichten. Aber je länger diese Zeit dauert, in der ich verzichte, desto schwieriger wird es für mich, ihn als meinen festen Partner zu akzeptieren. Mir fehlt etwas. Ich würde unglücklich werden. Denke darüber einfach mal nach.“

Das habe ich. Sehr lange und sehr intensiv. Und je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr erschloss sich mir der Sinn in ihrer Aussage. Es geht darum, glücklich zu sein in seinem Leben. Klar, muss man immer noch Kompromisse eingehen. Und ganz klar gibt es immer wieder Situationen, in denen man sich überlegen muss, ob man mit seinem Weg nicht vielleicht das Glück des anderen zerstört, ihn verletzt. Das Leben besteht zum Glück aus vielen Möglichkeiten, nicht alle muss man mitnehmen. Aber man kann sich die aussuchen, die man unbedingt braucht, die man ausprobieren möchte, die man leben möchte.

Gegenwart

Nun bin ich seit über zwei Jahren Single. Ich habe anfänglich dieses Leben in vollen Zügen ausgekostet. Ich habe mich gedatet, ich habe mit vielen unterschiedlichen Frauen Sex gehabt, habe vieles ausprobiert (und vieles noch nicht) und das meiste genossen. Seit ein paar Monaten habe ich allerdings bemerkt, dass es da bei mir in meinem Leben eine Lücke gibt. Ich konnte mich in all der Zeit nicht wirklich verlieben. Es gab einige Frauen, die sich in mich verliebt hatten, aber ich hatte es nicht zugelassen. Hatte dann das Weite gesucht, ich wollte mich nicht wieder binden, hatte Angst, mein jetziges Leben aufzugeben. Besonders schwierig war für mich, eine Frau bei mir übernachten zu lassen. Ich brauchte die Sicherheit in meinen vier Wänden. Ich brauchte die Gewissheit, dass ich morgens aufstehe und für mich allein war. Ich konnte nicht mal länger, als einen Tag mit einer Frau zusammensein. Ein Wochenende mit jemandem? Nein, nicht möglich. Gar eine Woche? Überhaupt nicht.

Und dann warst plötzlich Du da, Dilara. Und du hast mein Leben mit einem Lächeln aus Deinen wundervollen intelligenten, verträumten, sehnsüchtigen, gierigen, neugierigen, verschlingenden, humorvollen Augen völlig verändert.

Und mit einem Mal stellt sich für mich die Frage nicht mehr, ob Du bei mir übernachtest, sondern vielmehr, warum Du schon wieder gehen musst. Wie, wir müssen arbeiten? — Ich schreibe Dir eine Krankmeldung für Deinen Chef und Du mir für meinen. Lass uns unter diese Glocke gehen, die hält die Zeit außerhalb an und wir können uns so lange genießen, bis es wirklich nicht mehr anders geht.

Lass mich Dich nur noch einmal ansehen, nur noch einmal in den Arm nehmen, Dich nur noch einmal küssen. Ach, komm doch noch mal kurz zur mir ins Bett. Lass uns noch einen Kaffee trinken, nur noch diese eine Berührung, dann stehen wir auf, dann machen wir uns fertig, dann gehen wir arbeiten.

Ich bin verliebt? — Jaaaa, das bin ich. Wie ein Teenager beim ersten Mal. Und das ist das schönste Gefühl auf Erden.

Wir können offen miteinander reden, über unsere Wünsche, Sehnsüchte, über unser Verlangen… Aber auch über unsere Vergangenheit und unsere Ängste.

Und jetzt komme ich zum eigentlichen Thema, warum ich diesen Eintrag hier schreibe: Wir sind beide nicht monogam. Wir haben beide noch weitere Personen in unserem Leben. Und wir haben beide Verlustängste.

Über Unsere Ängste Reden

Von Anfang an waren wir offen zueinander. Ich wusste von Deiner Beziehung zu R, du wusstest von meinen anderen Frauen in meinem Leben und was sie mir bedeuten und wie sie zu mir und ich zu ihnen stehe. Als ich Dir davon zum ersten Mal erzählte, warst Du geschockt, Du wolltest nicht eine von vielen sein. Du wolltest nicht das Gefühl haben, einfach austauschbar zu sein. Denn das hattest Du schon erlebt und Du magst dieses Gefühl nicht. Du magst diese Beliebigkeit nicht. Sondern Du möchtest, dass ich Dich als das sehe, was Du bist: Jemand außergewöhnliches, jemand ganz Besonderes.

Wir sprachen über Deine Angst, ich nahm sie auf, ich nahm Dich ernst und ich erklärte es Dir ganz ruhig. Dass es im Endeffekt nur noch eine weitere Person (ich nenne sie mal N) gibt, die ich näher an mich heranlasse. Aber bei weitem nicht so nahe, wie Dich.

Du entschuldigtest Dich für Deinen Ausbruch und ich sagte Dir, dass Du Dich dafür nicht zu entschuldigen brauchst, sondern dass es wichtig und richtig ist, dass wir darüber so gesprochen hatten.

Und dann haben wir einen Abend miteinander verbracht. Und er war wie die Abende davor einfach nur wunderschön. Und ich entschloss für mich selbst, dass ich auf das Date mit N am Freitag verzichten wollte. Das hatte verschiedene Gründe. Einer war, dass Du mir meinen Kopf vernebelt hattest und ich mich bei diesem Date mit N nicht 100%ig auf sie einlassen würde können. Und das fand ich nicht fair, N gegenüber. Also habe ich das Date abgesagt. — Das war meine Entscheidung. Ich habe es nicht für Dich gemacht, sondern für mich. Und für N.

Und dann kam der Tag näher, an dem Du eine Nacht bei R sein würdest. Nun hatte ich mit meinen Ängsten zu kämpfen, mit meiner eigenen Eifersucht. Ich versuchte zuerst, diese Angst mit mir selbst auszumachen, mit Logik, gar mit Realismus zu entkommen.

Das wundervolle war, dass Du überlegt hattest, überhaupt hinzugehen. Weil Du mich in Deinem Kopf hattest. Uns. Es ging dir da ähnlich, wie mir. Aber es gab einen gewaltigen Unterschied: Deine Beziehung zu R hat lange vor mir angefangen und war und ist für Dich sehr wichtig. Meine Beziehung zu N baut sich erst auf.

Wir haben zuerst darüber gesprochen, und ich habe Dir geraten, es zu tun und es zu genießen. Dass es dabei um Dich geht. Und nicht um mich. Wir haben über unsere Wunschvorstellung der Polyamorie geredet, in der wir einen festen Partner haben und situationsabhängig ein ‚Alles Kann, nichts Muss‘ zulassen.

Und dann fragtest Du mich, wie es mir damit ginge, dass du den Abend mit ihm verbringen würdest. — Ich druckste zunächst ein wenig herum, wollte Dich nicht mit meiner Angst belasten. Ich kam mir egoistisch vor, ich wollte, dass Du das frei von Zweifeln genießen könntest.

Aber dann haben wir darüber offen geredet und Du nahmst mir meine Angst, meine Zweifel und gabst mir Mut.

Und belohnt wurde ich dafür damit, dass Du total glücklich um 3:00 Uhr morgens mir geschrieben hattest, dass es ein wunderschöner Abend für Dich gewesen war. Ich konnte Dich regelrecht vor mir sehen, wie Du strahltest, lächeltest, grinstest. Und da wusste ich, dass es gut war.

Ich freute mich für Dich und ich freute mich darauf, mit Dir über Deine Erlebnisse zu reden, Dir zuzuhören, Dich darüber schwärmen zu sehen und zu wissen, dass Du glücklich bist. — Ich freute mich allerdings auch darauf, mir im Kopf Notizen zu machen, diese mit meinen Wünschen zu kombinieren und diese bei nächster Gelegenheit mit Dir auszukosten.

Und Zum Schluss

Polyamorie bedeutet also für mich vor allem, dass man immer wieder über alles reden kann, dass man die Ängste des Partners ernst nimmt, aber auch seine eigenen anspricht und genau so ernst nimmt. Dass man sich gegenseitig bestärkt. Dadurch kann man miteinander wachsen. Anstatt sich aufzureiben, lernt man sich und den Partner besser kennen. Man lernt, dem Partner und sich selbst etwas zu gönnen, kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn man selbst mit jemand anderem flirtet oder gar mehr im Sinne hat. Man lernt, auf seine Gefühle zu achten. Auf seine Bedürfnisse zu achten. Und auf die des Partners. Man lernt seine Stärken besser kennen und geht mehr und mehr auf seine Schwächen ein. Man lernt, diese Schwächen in Stärken zu verwandeln. Man lernt, sich zu vertrauen. Seinen Stärken zu vertrauen.

Ich weiss mittlerweile ganz genau, wo meine Stärken liegen: In meiner Neugier, meinem Wissensdurst, meiner Lust, meiner Zärtlichkeit, meiner Rauheit, meinem Drang, offen auf Neues zuzugehen, es auszuprobieren, es mit Spielfreude mit anderen Ideen zu kombinieren, meine Fähigkeit, mich 100%ig auf meinen Partner oder eine Situation zu fokussieren, den Moment zu genießen, eine Intensität aufzubauen, es mit Humor zu sehen, wenn etwas nicht so klappt, wie gedacht, es dann aber mit frischer Kreativität wieder krachen lassen zu können. Und es kommen täglich weitere hinzu.

Natürlich ist Polyamorie kein Allheilmittel. Und nicht jeder kommt damit zurecht. Oftmals muss man seinen Freunden und Bekannten auch den Unterschied zur Polyvögelie (was für eine tolle Wortschöpfung, Dilara!) erklären, dass es eben nicht einfach nur darum geht, möglichst viel und möglichst oft und in möglichst unterschiedlichen Partnern zu kommen.

Nur eines ist Polyamorie nicht: Einfacher als Monogamie. Aber wenn man es richtig macht, hilft diese Beziehungsform ungemein, sich selbst zu finden und ein glücklicherer Mensch zu sein.

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