Ich konnte nicht schlafen und sitze draußen auf der Terrasse. Es ist weit nach Mitternacht. Alles ist dunkel. Alles ist still. Eine einsame Laterne spendet surreales, fast orangefarbenes Licht.
Und dann ist da der Regen.
Es nieselt nicht, sondern es gießt in Strömen wie als wenn man unter der Dusche steht. Es rauscht, wenn der Regen auf die Blätter der umstehenden Bäume fällt. Es plätschert wild, wenn der Regen auf die nasse Strasse sich ergießt. Es trommelt laut, wenn der Regen auf die Dächer der umstehenden Autos fällt.
Ich habe diese Geräuschkulisse schon immer geliebt.
Ich schließe meine Augen und stelle mir vor, einer dieser Regentropfen zu sein. Ich stelle mir vor, wie ich oben über den Wolken kondensiere, größer werde, schwerer. Ich stelle mir vor, wie ich so schwer werde, dass ich nicht mehr dort verweilen kann und herunterfalle. Ich jauchze laut, wenn ich an den anderen Tropfen vorbei falle, die noch nicht soweit sind wie ich. Ich jubele laut, wenn ich die Wolkenwand verlassen habe und endlich einen freien Blick auf die Landschaft unter mir habe. Wenn ich beobachten kann, wie die Erde langsam näher kommt. Wenn ich mir vorstellen kann, wo ich landen werde. Wird es dieser Baum sein? Ist es gar das Blatt? Werde ich gehalten, werde ich getragen? Wie lange kann ich dort verweilen, bis der nächste Tropfen kommt und mich verdrängt? Wie wird das Gefühl nur sein, wenn ich dann hochgeschleudert und anschließend ganz zu Boden fallen werde? Und wo werde ich dann aufkommen?
Ich stelle mir im Rauschen des Windes vor, wo ich als Regentropfen am liebsten landen würde. Ist es das Meer? Pralle ich auf die Oberfläche auf und werde ein Tropfen von Myriaden? Werde ich willkommen geheißen und mit offenen Armen empfangen? Werde ich Teil des Ganzen sein? Ist es eine Steilküste? Werde ich dazu beitragen, den Stein der Küste ein wenig weiter auszuhöhlen, so dass ich dann in einer Million Jahre, wenn ich hier wieder aufprallen werde, sehe, welche Veränderungen ich einst begonnen habe? Wird es diese Küste dann noch geben? Oder wird sie auch dank mir bereits im Meer versunken sein?
Werde ich in einem Fluss landen, der mich dann ob des vielen Wassers mit gierigen Armen auffängt und mitreißt? Folge ich dann dem Fluss, falle ich mit ihm ins Tal, rausche ich dann an Gärten vorbei? An Wäldern? An Seen? An Feldern? Sorge ich zusammen mit den anderen für Überschwemmungen? Und wie lange dauert es, bis ich dann wieder im Meer landen werde, um dann am Ende schließlich Teil des immer währenden Kreislaufs zu werden?
Oder lande ich zusammen mit meinen Geschwistern auf dem Kopf eines Berges und helfe dabei, ihn ein wenig zu massieren? Ihn zu waschen? Werde ich in ihn eindringen und mich durch meterdickes Gestein pressen, dabei Salze in mir aufnehmen, bis ich schlussendlich in irgendeinem Hohlraum als Stalagmit oder Stalaktit wie Zähne aus der Decke wachse oder gar einer Pflanze gleich aus dem Boden mich erhebe?
Oder lande ich schlicht auf einer Wiese, einer Straße? Oder gar auf dem Dach eines Hauses?
Ich stelle mir vor, wie ich bei strahlendem Sonnenschein als Tautropfen auf einem Grashalm mich sonne, bis ihre Hitze so stark wird, dass sie mich wieder aufheben wird, bis ich wieder hochgezogen werde, um dann als Teil einer Wolke wieder für Regen zu sorgen.
Ich liebe diese Gedankenspiele. Sie lenken mich ab, sorgen dafür, dass ich beschäftigt bin, dass mein Kopf nicht so sehr viel Zeit damit verbringt, um sich selbst zu kreisen. Gedanken kommen, werden aber wie der Regen einfach mitgerissen. Ich kann sie loslassen und treiben lassen, denn ich bin in diesem Moment Teil von etwas ganz Großem, immer währendem.
Ich liebe den Regen und seine Melodien. Ich liebe das stakkatohafte trommeln. Ich liebe das sanfte Rauschen.
Denn dann bin ich nicht allein.
Mittlerweile bin ich müde geworden und gehe zurück ins Bett. Ich kuschele mich an dich und schließe die Augen. Und in Gedanken sind wir beide zwei Tropfen Wasser. Und wir fliegen gemeinsam durch die Wolkendecke. Und wir suchen uns gemeinsam aus, wo wir landen werden.
Und ich schlafe ein. Glücklich.
Tolle Sprache. Schönes Ende. Ich kenne das Gefühl, das du beschreibst… Vermutlich auf meine Art, die ganz anders ist als deine. Und doch kann man sich in Worten für einen Moment begegnen und die Welt ein bisschen mit den Augen eines anderen sehen… Echt schön geschrieben!
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